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Anwendung der kanadischen Modell-Triplette und der COAST-Methode in der ergotherapeutischen Praxis - Teil 1

Von Lexi Mannes
Veröffentlicht in kanad. Modellreihe
27. Oktober 2021
7 min Lesezeit
Anwendung der kanadischen Modell-Triplette und der COAST-Methode in der ergotherapeutischen Praxis - Teil 1
Graphische Darstellung der Verknüpfung zwischen den Elementen der kanadischen Modell-Triplette und der COAST-Methode eigene Darstellung

Inhaltsübersicht

01
Der Klient Herr Mensch - Hintergrundinformation
02
Die ergotherapeutische Intervention mit Herrn Mensch nach dem CPPF
03
Wie geht es weiter?

In diesem Teil der Artikel-Reihe werde ich alle in den vorherigen Artikeln besprochenen Elemente: CMOP-ECPPF, COPMCMCE und Zielformulierung nach der COAST-Methode verknüpfen und anhand eines Fallbeispiels entfalten. Ich habe mich dazu entschieden die Beschreibung des Therapieverlaufs nach dem CPPF zu strukturieren - in diesem Blogbeitrag gehen wir die Action Points 1 bis 4 durch und im nächsten Artikel kommen die Action Points 5 bis 8.

Der Klient Herr Mensch - Hintergrundinformation

Ich behandle Herrn Mensch seit über zwei Jahren, er bekommt schon eine deutlich längere Zeit Hausbesuche vom Gesundheitszentrum, in dem ich arbeite. Durch den Input aus meinem Studium wollte ich die Therapie mit Herrn Mensch in eine neue Richtung lenken, außerdem ist mir klar geworden, dass ich bis dahin von meinem Klienten kein so wirklich holistisches Bild hatte.

Meine Therapie mit ihm hatte bis dahin einen sehr defizit- und körperfunktionsorientierten Fokus, seit circa einem halben Jahr war “Gangtrainig” das Thema und ich habe mit Herrn Mensch ohne klares Ziel versucht sein Gangbild zu verbessern (natürlich ohne zu definieren was “besser” eigentlich bedeutet). Nach diesem halben Jahr ist mir aufgefallen, dass ich nicht mehr gerne zu diesem Patienten komme, weil wir immer dasselbe gemacht haben und ich keinen Erfolg gesehen habe. Ich war gelangweilt und frustriert, und ähnliche Empfindungen hatte ich in letzter Zeit immer häufiger bei Herrn Mensch festgestellt Die Therapie, die ich Herrn Mensch anbot, hatte nur wenig damit zu tun, wie ich Ergotherapie eigentlich verstanden hatte, und ehrlich gesagt habe ich mich ziemlich hilflos gefühlt, weil ich nicht wusste wie ich mein Verständnis von Ergotherapie in die Tat umsetzten konnte. Dann kam der richtige Input aus meinem Studium: Wir hatten an einem Wochenende die kanadische Modelltriplette besprochen und sollten als Hausarbeit alles an einem Fallbeispiel (am besten ein echter Klient) anwenden - die Ausarbeitung meiner Hausarbeit war ein Feuerwerk aus AHA Momenten für mich.

Ich werde dich im Folgenden mitnehmen durch meine ergotherapeutische Intervention mit Herrn Mensch, ich werde den CPPF als Leitfaden nutzen und dir zeigen, wie ich Elemente aus dem kanadischen Modell-Triplett verwende.

Die ergotherapeutische Intervention mit Herrn Mensch nach dem CPPF

Wir starten mit dem ersten Action Point nach dem CPPF. Ja ich weiß, ich habe geschrieben, ich kannte den Patienten schon und ich werde dir jetzt nicht weißmachen, dass meine Therapiegestaltung schon von der ersten Therapieeinheit an ideal war. Ich habe oben geschrieben, dass ich durch den Input aus meinem Studium ein Feuerwerk aus AHA Momenten hatte: Durch dieses Feuerwerk konnte ich in der Therapie einen Neustart versuchen (CMCE skill - adapt). Ich habe mir klar gemacht, was ich eigentlich über meinen Patienten weiß, wie die bisherige Intervention aussah und warum Herr Mensch in unserer therapeutischen Beziehung ein Patient und kein Klient ist.

Wer ist eigentlich Herr Mensch? (Betrachtung des Klienten nach dem CMOP-E)

Ja, diese Frage hab ich mir tatsächlich gestellt und auch beantwortet. Dafür habe ich mir das CMOP-E zur Hilfe genommen. Keine Angst ich habe nicht angefangen, das aufwändig aufzuzeichnen, sondern mich einfach auf die Kernbereiche besonnen: Person mit physischen, kognitiven und affektiven Komponenten; der Betätigung, die aus Selbstversorgung, Produktivität und Freizeit besteht; und der institutionellen, physischen, sozialen und kulturellen Umwelt.

Herr Mensch ist Mitte 40, hat eine infantile Cerebralparese und vor 10 Jahren bei einem Unfall einen inkompletten Querschnitt in der Halswirbelsäule mit einer inkompletten Tetraparese erlitten. Nach diesem Unfall wurde ihm eine Metallplatte zur Stabilisation in die Halswirbelsäule eingesetzt, deswegen kann er seine Halswirbelsäule nur eingeschränkt in die Flexion und Extension bringen. Sein Gangbild wirkt unsicher, steif und schwerfällig. Es ist auffällig, dass er in den Extremitäten eher mit einem Hypertonus zu kämpfen hat, dafür sein Rumpfbereich eher hypoton ist (Person - physische Komponente). Herr Mensch hat eine leichte kognitive Einschränkung und außerdem durch sein Stottern eine undeutliche Aussprache. Es ist für ihn nicht so leicht begreiflich, dass er nicht eines Tages plötzlich “gesund” werden kann, er hat sie Hoffnung irgendwann völlig ohne Einschränkungen leben zu können (Person - kognitiv). Herr Mensch wirkt schnell kindlich, da er all seine Emotionen ohne Grenze herauszulassen scheint - so ist er überglücklich, wenn ihm in der Therapie ein Fortschritt gelingt, aber auch schnell frustriert und stampft mit seinem Bein auf, wenn er scheitert (Person - affektiv).

Herr Mensch war auf einer Schule für Kinder mit körperlicher Behinderung, hat aber keinen Beruf erlernt. Die Hausarbeit übernimmt vollständig seine Frau (Betätigung-Produktivität). Herr Mensch braucht bei ein paar Aspekten der Selbstversorgung (schneiden von Fleisch) Unterstützung durch seine Familie (Betätigung-Selbstversorgung). Herr Mensch verbringt seine Freizeit gerne mit seiner Familie.

Der Klient lebt mit seiner Frau und seiner Tochter in einem Mehrfamilien-Haus, in dem auch seine Eltern und seine Schwester mit Familie wohnen (soziale und physische Umwelt). Herr Mensch bewohnt mit seiner Familie die erste Etage, welche über das Treppenhaus zu erreichen ist, die Wohnung ist nicht barrierefrei, aber mit Hilfsmitteln (Haltegriffe im Bad, Schuhlöffel) kommt Herr Mensch gut zurecht. Zur Fortbewegung außerhalb des Hauses hat Herr Mensch einen elektrischen Rollstuhl und einen Rollstuhl mit Handantrieb (physische Umwelt). Herr Mensch hat Wurzeln in der Türkei, er ist Muslim und er hält Ramadan zur vorgeschriebenen Zeit (kulturelle Umwelt). Herr Mensch bekommt zweimal pro Woche Ergotherapie als Hausbesuch und er hat auch eine Zeitlang Logopädie als Hausbesuch aus meinem Gesundheitszentrum bekommen. Außerdem erhält er von einer anderen Praxis Physiotherapie als Hausbesuch (institutionelle Umwelt).

Durchführung des COPM

Du hast vielleicht bemerkt, dass mein Wissen über die Komponente “Betätigung” verglichen mit meinem Wissen zu den anderen Komponenten eher mau ist, obwohl ich insgesamt viele Informationen hatte. Es geht aber bei der Entwicklung einer sinnvollen Therapie vor allem um die Qualität der Informationen und nicht um die Quantität. Die Qualität der Informationen kann ich gut daran bestimmen wie sehr sie in meinen “ergotherapeutischen Bereich” passen, der durch das CMOP-E zuallererst als der Bereich der Betätigung definiert ist. Ich hatte also bis jetzt nicht die richtigen Informationen, um Herrn Mensch eine sinnvolle ergotherapeutische Intervention anzubieten (CMCE skill - advocate). Um das zu ändern habe ich mit Herrn Mensch ein COPM durchgeführt.

Dafür habe ich mir Herrn Mensch und seine Frau geschnappt und mit beiden gleichzeitig das Interview geführt (CMCE skill - engage). Dabei wurde deutlich, dass seine Frau Herrn Mensch vor allem bei Betätigungen im Bereich der Selbstversorgung hilft und sie das auch gerne tut (Fleisch im Teller schneiden, ankleiden). Außerdem übernimmt sie gerne die Haushaltsführung. Es gab aber auch einige Betätigungen, bei denen Herr Mensch klar äußerte, sie in Zukunft gerne selbstständiger ausführen zu können:

  • Aufstehen vom Boden - Wichtigkeit 9 - Priorität 1 - Performanz 1 / Zufriedenheit 0
  • Treppen steigen - Wichtigkeit 8 - Priorität 2 - Performanz 5 / Zufriedenheit 2
  • Jeans zu knöpfen - Wichtigkeit 6 - Priorität 3 - Performanz 3 / Zufriedenheit 3
  • Ein- und Aussteigen in die Badewanne - Wichtigkeit 6 - Priorität 4 - Performanz 4 / Zufriedenheit 3
  • Mit seinem Neffen im Hof Basketball spielen - Wichtigkeit 4 - Priorität 5 - Performanz 1 / Zufriedenheit 1

Ich möchte hier nochmal betonen, dass es für mich als Therapeutin keine große Rolle spielen darf in welcher Reihenfolge diese Items stehen. Denn ja, logisch betrachtet muss mein Klient sicher deutlich öfter in seine Badewanne steigen, als vom Boden aufstehen. Aber mit der Therapie will ich ja meinem Klienten helfen und nicht meine Vorstellungen durchbringen. Wenn mein Klient also das “Aufstehen vom Boden” als besonders wichtige Betätigung sieht, dann ist das auch für mich die oberste Priorität (CMCE skill - collaborate).

Erwartungen abklären

Bestimmt hast du bemerkt, dass ich mit Herrn Mensch bis jetzt eigentlich gar nicht über seine Erwartungen an die Therapie gesprochen habe. Das ist nach dem CPPF eigentlich der zweite Action Point und bei einer “richtigen Neuaufnahme” macht es nach meiner Erfahrung auch sehr viel Sinn gleich zu Anfang nach den Erwartungen an die Therapie zu fragen. Ich habe mich aber entschieden in der Neuauflage unserer Therapie erst nach dem COPM nach den Erwartungen von Herrn Mensch zu fragen, weil der Schritt in diesem Fall mehr Gewicht bekommt (CMCE skill - specialize).

Herr Mensch ist ja ein bereits sehr therapieerfahrener Patient, er hat aber meines Erachtens in der Vergangenheit jahrelang vor allem eine therapeutenzentrierte und körperfunktionsorientierte Therapie erlebt, er hätte also sicherlich nicht geäußert, dass er eigentlich eine Therapie erwartet, die klientenzentriert und alltagsbezogen ist. Durch die Probleme, die im COPM aufkamen, konnte ich ihn aber in diese Richtung lenken (CMCE skill - coach). Es drängte sich also die Frage auf weshalb wir in der Zukunft weiter Wert auf Therapieinhalte legen sollten, die noch nie Einfluss auf die Betätigungsanliegen des Klienten hatten. Herr Mensch äußerte im Gespräch auch sehr deutlich eine große Frustration in Bezug auf die Therapie, die auch zu einer immer geringeren Motivation geführt hat.Herr Mensch und ich entschieden also gemeinsam, dass wir in Zukunft die Ergotherapie so gestalten, dass sie bei der Bewältigung seiner Alltagsprobleme helfen kann.

Formulieren des Therapieziels

Nun kommt ein sehr wichtiger Schritt, der den Therapieverlauf stark prägen kann: Die Formulierung eines Therapieziels. Ich habe das Therapieziel mit meinem Klienten gemeinsam formuliert, für mich ist das ein wesentlicher Bestandteil meiner klientenzentrierten Arbeitsweise. Das Formulieren eines Ziels bedeutet für mich nicht, dass ich unbedingt einen feststehenden Satz haben muss, sondern, dass ich und mein Klient beide wissen, worauf wir hinarbeiten. Dafür reichen mit im Praxisalltag auch aussagekräftige Stichpunkte, die ich nach der COAST-Methode formuliere. Wie so häufig sind die ersten beiden Punkte relativ klar:

  • C (Client): mein Klient Herr Mensch
  • O (Occupation): aufstehen vom Boden
  • A: ?
  • S: ?
  • T: ?

Die anderen Punkte sind häufig etwas schwieriger, um diese Punkte herauszufinden, muss ich nämlich Rücksprache mit meinem Klienten halten - denn diese beiden Punkte reichen auf keinen Fall aus (CMCE skill - collaborate)! Das Ziel ist so viel zu grob und auch hält auch nicht den SMART-Kriterien stand.

Ich habe Herrn Mensch also gefragt, von welchem seiner Angehörigen er sich lieber helfen lassen würde, wer den vielleicht auch am ehesten Verfügbar sei und zu wem er auch das größte Vertrauen habe. Es stellte sich heraus, dass Herr Mensch gerne erreichen würde, ohne die Hilfe von seinen Angehörigen vom Boden aufzustehen, um diese zu entlasten und auch um zurecht zu kommen, wenn er allein sein sollte. Selbstständig vom Boden aufzustehen bedeutet für Herrn Mensch das ohne Angehörige und auch ohne Möbelstücke zu schaffen. Im Gespräch wurde weiterhin deutlich, dass er vor allem nach einem Sturz gerne die Sicherheit hätte zu wissen, dass er es auf jeden Fall schafft vom Boden aufzustehen.

Bezogen auf den zeitlichen Rahmen waren Herr Mensch und ich uns einig, dass das Thema “vom Boden Aufstehen” uns für einen langen Zeitraum beschäftigen würde. Ich erklärte ihm aber, dass es sinnvoll ist einen Zeitraum festzulegen, an dem wir überprüfen, ob wir dem Ziel schon nähergekommen sind und auch überprüfen, ob wir an den Therapieinhalten etwas ändern sollen (CMCE skill - engage).

  • C (Client): mein Klient Herr Mensch
  • O (Occupation): aufstehen vom Boden
  • A: ohne die Unterstützung von Angehörigen oder Möbelstücken
  • S: nach einem Sturz (auch Sturz im Freien)
  • T: nach 4 Wochen erste Überprüfung

Wie geht es weiter?

Ich sprach mit Herrn Mensch ebenfalls darüber, welche Inhalte unsere nächsten Therapieeinheiten haben und wie wir unser Ziel erreichen könnten. Wir fassten den groben Plan uns das Aufstehen vom Boden genau anzuschauen und zu überlegen welche Abläufe wir verändern sollten. Im nächsten Artikel erfährst du, wie ich die nächsten Action Points, darunter “Plan umsetzten” und “Überwachen/Verändern” mit meinem Klienten gestaltet habe.


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