In Teil 2 dieser Artikel - Reihe werde ich dir erklären, wie du das “Canadian Model of Occupational Performance and Engagement” in deiner Praxis umsetzten kannst. Zuerst werden wir uns wieder mit dem theoretischen Unterbau auseinandersetzten und anschließend die praktische Anwendung genau beleuchten.
Das CMOP-E greift den gundlegenden Gedanken aus dem PEO-Modell auf: Umwelt, Betätigung und Person stehen miteinander in Beziehung. Aus Sicht des CMOP-E steht die Person zentral im Modell und wird von der Betätigung und der Umwelt umschlossen. Das Herzstück jeder Person ist die Spiritualität, also die Werte, Überzeugungen und der Antrieb der Person. Jede Person besteht außerdem aus drei Elementen: Kognition, Physis und Affekt.
Auch die Betätigung ist in drei Bereiche unterteilt: Selbstversorgung, Produktivität und Freizeit. Die Umwelt besteht nach dem CMOP-E aus den vier Aspekten physische Umwelt, institutionelle Umwelt, kulturelle Umwelt und soziale Umwelt. Die Betätigung kann als Brücke zwischen Person und Umwelt gesehen werden. Sobald wir tätig werden interagieren wir mit unserer Umwelt und sobald wir mit unserer Umwelt interagieren werden wir tätig.
Die drei Balken an der Seite verdeutlichen den Zusammenhang der drei Bereiche, aber bieten auch eine Möglichkeit zur Abgrenzung. Sie definieren genau den Bereich, in dem wir Ergotherapeuten aktiv werden können. Wir können einen Teil der Person beeinflussen, indem wir beispielsweise eine Therapieeinheit mit tonusregulierenden Maßnahmen beginnen, um auf die physische Komponente der Person Einfluss zu nehmen. Auch die Umwelt können wir teilweise beeinflussen, in dem wir einem Klienten einen Duschhocker empfehlen, damit er wieder selbstständig duschen kann - damit haben wir die physische Komponente der Umwelt verändert.
Das Wort “engagement” hat verschiedene Bedeutungen im Englischen und wenn man es auf deutsch übersetzt, wird das ganze irgendwie noch verwirrender - es hat aber weder etwas mit Terminen, Verpflichtungen oder Hochzeiten zu tun. In der Ergotherapie nutzten wir den Begriff mit der Bedeutung von “Eingebunden sein”. Und hier offenbart sich die ganze Schönheit des Begriffs: Ich kann nämlich nicht nur in etwas eingebunden sein, wenn ich aktiv an etwas teilnehme, sondern auch wenn ich nur eine passive Rolle einnehme.
Mein Bild für den Kopf ist das Ed Sheeran Konzert auf dem ich vor 2 Jahren war. Ich hatte keine aktive Rolle bei diesem Konzert, ich habe nichts getan außer mir die Hände wund zu klatschen, mir die Seele aus dem Leib zu schreien und natürlich Ed Sheeran anzuhimmeln. Trotzdem waren ich und die anderen 100.000 Besucher eingebunden in dieses Konzert.
Vielleicht bist ja auch du während der Ausbildung dazu aufgefordert worden, das CMOP-E einfach wie eine Brille zu betrachten - es also aufzusetzen und dadurch deine Klient*innen zu betrachten. Diese Aussage ist nett, aber sie hat mir persönlich nicht dabei geholfen zu verstehen, wie sich dieses Inhaltsmodell in der Praxis anwenden lässt. Ich persönlich betrachte das CMOP-E eher als Raster, worin sich jede Information über dendie Klientinnen einsortieren lässt. Jede Information über deine Klient*in kannst du jetzt auf diesem Raster einordnen. Um das nicht zu trocken werden zu lassen, möchte ich dir jetzt gerne einen Klienten von mir vorstellen: Herr Klient.
Herr Klient ist 55 Jahre alt, er hatte vor 5 Jahren einen Schlaganfall, wodurch der eine mild ausgeprägte Halbseitensymptomatik links hat.
Sein Gangbild ist nicht ganz rund und er spürt seine linke Seite vermindert (physische Komponente). Im Gespräch gibt er an auch hin und wieder Dinge zu vergessen und sich nicht mehr so gut auf eine Sache konzentrieren zu können (kognitive Komponente). Es belastet ihn, seinen Körper nicht mehr so einsetzten zu können wie er es gerne will und er fühlt sich in letzter Zeit etwas niedergeschlagen. Er weiß oft nichts mit sich anzufangen und ihm ist oft langweilig (affektive Komponente).
Herr Klient hat keine Probleme damit sich selbstständig anzukleiden, sich zu waschen oder zu essen (Selbstversorgung). Vor seinem Schlaganfall war er in einem Restaurant tätig, jetzt jedoch kann er dieser Betätigung nicht mehr nachgehen (Produktivität). In seiner Freizeit geht er gerne in türkische Cafés um dort Freunde zu treffen.
Herr Klient lebt mit seiner Frau zusammen in einer Wohnung mit kleinem Gartenanteil. Seine Frau begleitet ihn auch meistens mit zur Therapie (soziale und institutionelle Umwelt), da er durch seine Einschränkung nicht Autofahren will und sich in den öffentlichen Verkehrsmitteln sehr unsicher fühlt (affektive Komponente und physiche Umwelt).
Herr Klient und seine Frau kommen ursprünglich aus der Türkei und Herr Klient bittet seine Frau für ihm Aussagen in der Therapie zu übersetzten, wenn sie ihm nicht klar sein sollten. Er ist sehr stolz auf seine türkische Herkunft und erzählt oft von seinem Herkunftsland (kulturelle Umwelt und soziale Umwelt).
Als ich ihn gefragt habe, was ihm in seinem Alltag zu Zeit besonders schwer fällt, hat er mir erzählt, dass er es sehr schade findet nicht mehr arbeiten zu können - seine Arbeit hat ihm immer viel Freude bereitet. Alles in allem erlebt Herr Klient seinen Alltag als unausgefüllt und nicht zufriedenstellend.
Jetzt hast du von meinem Klienten ein ziemlich weitgreifendes, aber dennoch oberflächliches Bild erhalten - denn du hast noch nichts über seine Spiritualität erfahren. Herr Klient hat nämlich nicht einfach nur in einem Restaurant gearbeitet, sondern er war dort türkischer Pizzabäcker. Ich habe in der Zusammenarbeit mit ihm nur einmal den Fehler gemacht ihn einfach als “Pizzabäcker” zu bezeichnen. Nein, Herr Klient ist türksicher Pizzabäcker. Er hat diesen Beruf mit 14 Jahren gelernt und das ist für ihn ein immenser Teil seiner Identität. Er hat mir erläutert, was der Unterschied ist zwischen italienischer und türischer Pizza und was es für ihn bedeutet als Pizzabäcker türkischer Pizzabäcker tätig zu sein. Erst als ich das von ihm erfahren hatte, konnte ich mir ein richtig vollständiges Bild von ihm machen - und alle Murmeln im Raster einordnen.
Ein wichtiger Teil der Spiritualität von Herrn Klient sind nun also seine türkischen Wurzeln und sein Beruf als türkischer Pizzabäcker. Wie ich Herrn Klient in der Therapie erlebt habe, würde ich sagen für ihn bedeutet seine Tätigkeit als türkischer Pizzabäcker seine Berufung. In den Gesprächen mit Herrn Klient ist immer wieder angeklungen, dass er seinen Alltag momentan als unausgefüllt empfindet. Als seine Ergotherapeutin stelle ich nun die Hypothese auf, dass er so empfindet, weil mit seiner Arbeit ein wichtiger Teil seines Alltags seit dem Schlaganfall weggefallen ist (1. Hypothese).
In der Zeit vor seinem Schlaganfall war für Herrn Klient seine Freizeitgestaltung nicht seine höchste Priorität, als Folge daraus fühlt er sich aktuell häufig gelangweilt. Denn wenn Freizeitgestaltung im Alltag keine große Rolle spielt, ist die Menge an freier Zeit, die man zur Verfügnung hat wenn man plötzlich nicht mehr arbeiten kann so groß, dass sie nicht so leicht zu nutzen ist. Weil Herr Klient in seiner Vergangenheit viel gearbeitet hat und seine Arbeit ihn darüber hinaus auch sehr ausgefüllt hat, hat er seine Freizeit nicht besonders ausgestaltet, mit dem Wegfall seiner Arbeit spürt er nun die Folgen (2. Hypothese).
Durch die Verknüpfung der Informationen, die wir über Herrn Klient haben lässt sich auch noch eine weitere Hypothese aufstellen. Es wird nämlich auch klar, warum Herr Klient nicht zufrieden ist, obwohl er doch keine gravierenden Einschränkungen in seiner Selbstversorgung hat - du ahnst es sicher schon. Herr Klient fühlt sich unausgefüllt und unzufrieden weil er seiner Berufung aktuell nicht nachgehen kann. Er ist dankbar, dass er sein Essen selbst einnehmen kann, aber diese Tatsache bietet für ihn kaum Potential sich damit zu identifizieren.
Diese Frage ist sehr leicht zu beantworten: Du weißt es nicht. Du weißt es zumindest nicht genau - und das ist auch völlig in Ordnung.
Wie bereits erwähnt, beim CMOP-E handelt es sich um ein Inhaltsmodell. Mit der Hilfe des CMOP-E haben wir die Informationen über Herrn Klient geordnet und Verknüpfungen hergestellt. Dadurch konnten wir nachvollziehen was ihm wichtig ist: nämlich seine Arbeit. Wir haben also unseren klientenzentrierten Fokus erkannt und wissen nun, dass sich unsere Therapie um Herrn Klients Arbeit drehen wird. Darüberhinaus konnten wir die Informationen über Herrn Klients Umwelt ordnen und wir haben uns auch mit den Informationen zu seinen personenbezogen Faktoren beschäftigt. Abschließend konnten wir einige Informationen miteinander in Beziehung setzten.
Eines der wichtigsten Schlagworte der modernen Ergotherapie ist die “Klientenzentrierung”. Aber was bedeutet das eigentlich genau? Wenn ich meine Therapie klientenzentriert gestalten will heißt das meine Klient*innen und ich arbeiten auf Augenhöhe zusammen, denn der*die Klient*in ist der Experte für seinen*ihren Alltag und wir als Ergotherapeut*innen sind die Experten für Ergotherapie. Wir teilen uns also die Verantwortung für die Therapie auf, und die Klient*innen bestimmen aktiv mit welche Inhalte wir bearbeiten. Dafür müssen die Klient*innen sich aber auch verstanden fühlen und wir als Ergotherapeuten müssen zuhören und fragen stellen.
Durch das CMOP-E muss ich nicht ins blaue hinein fragen, denn es bietet mir eine Struktur. Das CMOP-E hilft mir dabei mein*e Klient*innen unvoreingenommen und holistisch zu betrachten - so lässt es sich vermeiden, dass für mich jede*r Klient*in mit einer neurologischen Diagnose ein “Neuro” wird, sondern Herr Klient ist.
Durch die Anwendung des CMOP-E weiß ich genau über welche Komponenten ich schon Informationen habe und wo mir vielleicht noch Informationen fehlen. In Kombination mit dem CPPF kannst du nun deine Therapie planen.
Am Besten startest du direkt morgen, nimm dir einfach die Grafik zur Hand und überlege bei welchen Klient*innen du welche Informationen hast - und welche dir fehlen. Nimm dir gerne zwei Klient*innen vor, die schon länger bei dir in Behandlung sind und überprüfe ob du sie wirklich so gut kennst wie du meinst. Wenn du bemerkst, dass dir Informationen fehlen kannst du in der nächsten Therapieeinheit das Gespräch auf diese Themen lenken.