In diesem Artikel werde ich dir eines meiner Herzensthemen erklären und näher bringen: Professional Reasoning.
Professional Reasoning beschreibt den Prozess, mit dem Ergotherapeut*innen ihr berufliches Handeln begründen. Dabei kann nach unterschiedlichen Fragestellungen und Denkweisen vorgegangen werden, je nach dem unter welchem Gesichtspunkt du dein Handeln begründen willst, oder was besonders prägend für dein Handeln war. In der von mir erstellen Grafik habe ich alle mir bekannten Formen des professional Reasoning aufgeschrieben, im Artikel werde ich dir die Formen genauer vorstellen, die mir selbst in meinem praktischen Arbeiten schon geholfen haben.
Aber wieso ist mir dieses Thema eigentlich so wichtig? Du hast vielleicht selbst schon bemerkt, dass es nicht ganz einfach ist vor Angehörigen, Klient*innen oder auch deinen eigenen interessierten Freundinnen und Freunden zu erklären was genau Ergotherapie eigentlich ist. Ein Grund dafür ist unter anderem ein unklares Berufsbild der Ergotherapie selbst, aber auch dass wir unsere jeweiligen Interventionen ganz individuell auf unsere Klient*innen abstimmen sollten. Und hier ist der Haken: Die ergotherapeutische Intervention wird dann häufig als eine “black box” gesehen, also als etwas, was nicht richtig erklärbar ist. Ich denke das ist häufig der Fall, weil viele Therapeut*innen ihre Intervention nicht richtig begründen können und dann aus dem Bauch heraus entscheiden. Dafür gibt es meiner Ansicht nach zwei Löungswege: die Umsetzung von evidenzbasierter Praxis und der Einsatz von professional reasoning. Für mich muss in jeder ernst zu nehmenden ergotherapeutischen Intervention jeder Weg vorhanden sein. Während der Einsatz evidenzbasierter Praxis dabei hilft die getroffenen Entscheidungen mit wissenschaftlichen Belegen zu untermauern, ist professional reasoning dazu notwendig aus den vielen Möglichkeiten die für deine*n Klienten*in am besten passende Möglichkeit zu wählen.
- Scientific reasoning: Beim Scientific Reasoning werden vor allem wissenschaftliche Methoden angewandt, um das eigene Handeln zu begründen oder sich auftuende Fragestellungen zu beantworten. Zum scientific reasoning gehört unter anderem auch das Bilden von Hypothesen während in der Therapie, das Nutzen von Evidenz aus der Forschung oder natürlich das Nutzen von ergotherapeutischen Modellen oder Bezugsrahmen.\
Nach dieser Denkweise kann ich also mein therapeutisches Handeln begründen, indem ich beispielsweise die kanadische Modelltriplette als Basis für meine Therapie nutzte. Nach dieser Vorgehensweise könnte ich also mit meinen Klient*innen das CMOP-E als Inhaltsmodell, das CPPF als Prozessmodell und COPM als Assessment nutzen und anhand des CMCE meine Kompetenzen benennen.
- Diagnostisches reasoning: Beim diagnostischen Reasoning steht die jeweilige Diagnose der Klient*innen im Vordergrund und damit auch die Frage mit welchen funktionellen Problemen zu rechnen ist. Diese Denkweise greift bei meistens dann, wenn ich eine*n Klient*in zur Neuaufnahme habe. \
Dann lese ich beispielsweise “Querschnittssyndrom HWS” auf dem Rezept und habe in meinem Kopf sofort eine ganze Palette an Fragen, die abläuft. Beispielsweise frage ich mich dann, wie stark die Handfunktion des Betroffenen oder der Betroffenen ist, wie er oder sie den vermutlich elektrischen Rollstuhl steuert. Ich habe auch eine Liste von Dingen im Kopf, die ich unbedingt beachten will: Bei einem Transfer vermutlich eher ein tiefer Transfer; sind alle möglichen Ausgangsstellungen in Ordnung für die Atmung; keine unbewusst ableistischen Verhaltensweisen reproduzieren. \
Um diese Fragen oder Erinnerungen zu ersinnen ziehe ich mich aber nicht für 20 Minuten in mein stilles Kämmerlein zurück - diese Fragen und Hinweise laufen in meinem Kopf bei JEDER Diagnose, die ich kenne automatisch ab. Ich denke ich könnte das nicht abstellen, selbst wenn ich wollte. Trotzdem ist es immer noch wichtig flexibel zu bleiben und die Fragen auch wieder zu verwerfen, wenn sie nicht mehr passen.
- Prozedurales reasoning: Beim prozeduralen Reasoning steht nicht mehr die Diagnose des*r Klienten*in im Vordergrund, sondern eher das nachdenken über über mögliche Behandlungsansätze und konkrete Vorgehensweisen. Dabei werden die verschiedenen Beeinträchtigungen der Klient*innen in Betracht gezogen, aber auch die jeweiligen Ressourcen und Anliegen. \
Auf mein praktisches Arbeiten gehört für mich zu dieser reasoning Form, dass ich während der Neuaufnahme mit meiner Klientin transparent bespreche, dass ich die Intervention mit ihr gerne auf die Thematik “Gelenkschutz” und das Konzept “Hilfe zur Selbsthilfe” ausrichten möchten. Meine Klientin hat mir im Gespräch erzählt, dass sie zur Zeit am meisten durch die Arthrose in ihren Fingern beeinträchtigt wird. Ich kann aus ihren Äußerungen schließen, dass sie das Gefühl hat ihre Rolle als Mutter ihrer beiden Töchter nicht adäquat ausführen zu können. Sie kann beispielsweise keine Flaschen oder ähnliches öffnen und muss immer häufiger ihre 14 Tochter bitten ihr irgendwie die Hände zu massieren, weil sie so starke Schmerzen hat. Konkrete Inhalte müssen sich trotzdem noch aus der Therapie heraus ergeben, aber ich habe mir gemeinsam mit meiner Klientin nun schon Gedanken über “die Prozedur” also die ergotherapeutische Intervention gemacht.
- Konditionales reasoning: Durch Fragestellungen und ein Nachdenken in der Richtung des konditionalen Reasonings lässt sich ein guter Überblick über die Gesamtsituation der Klient*innen bekommen. So lassen sich Informationen über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Klient*innen, aber auch zur Person, zum persönlichen Kontext und zu den allgemeinen Lebensumständen in Erfahrung bringen und einordnen. Auf diese Weise ergibt sich ein komplexes Bild von den Klient*innen, in das du alle Informationen über den Klienten einordnen kannst.
- Ethisches reasoning: Ethisches Reasoning bedeutet für mich die Auseinandersetzung mit den eigenen Wertvorstellungen und den Wertvorstellungen meiner Klient*innen. Vor allem finde ich es wichtig das eigene Denken gut auf Vorurteile oder problematische Denkweisen zu durchkämmen. Für mich persönlich gehört dazu unter anderem bei Klient*innen mit einer Behinderung darauf zu achten nicht unbewusst ableistische Annahmen zu reproduzieren, wie beispielsweise bewundernden Ableismus, also behinderte Menschen einfach ob ihrer bloßen Anwesenheit inspirierend zu finden. \
Viele meiner Klient*innen mit chronischen Erkrankungen wie MS oder Parkinson äußern mir gegenüber auch immer wieder ihre Ängste in Zukunft auf einen Rollstuhl oder Rollator angewiesen zu sein. Oftmals höre ich dann den Satz: “Wissen Sie, ich habe im Wartezimmer vorhin jemanden gesehen, der an den Rollstuhl gefesselt war … Verglichen mit dieser Person geht es mir ja noch gut!”. Ich sehe es dann als meine Aufgabe an dieses häufig unbewusst implizierte Vorurteil in der Therapieeinheit zu thematisieren und meinen Klient*innen ihre unbewusste Angst zu nehmen.
- Narratives reasoning: Wenn du es für bedeutsam hältst mehr über die Lebensgeschichte deinesr Klienten*in herauszufinden, dann ist es sinnvoll nach dem narrativen Reasoning vorzugehen. Durch Fragestellungen, die du durch diese Denkweise entwickelst, kannst du die Lebensgeschichte deiner Klientinnen in die Therapie einflechten, um deinen Klient*innen wieder zu mehr Lebensqualität zu verhelfen. Ich persönlich nutze diese Reasoning-Form gerne, wenn ich mit demenzerkrankten Menschen arbeite, so kann ich mit ihnen Biographiearbeit machen. \
Diesen Interventions-Baustein habe ich für einen Klienten genutzt, der an Parkinson und Alzheimer-Demez erkrankt war. Ich habe auch seine Ehefrau viel in die Therapie eingebunden und beide erzählten mir viel von der beruflichen Vergangenheit meines Klienten: Er war Starfighter-Pilot bei der Bundeswehr gewesen und hat diesen außergewöhnlichen Beruf unter anderem dazu genutzt viel zu fotografieren. Die damals entstandenen Bilder haben mich sehr fasziniert und ich versuchte die berufliche Vergangenheit meines Klienten in meiner Intervention einen geeigneten Raum zu geben.
- Interaktives reasoning: Beim interaktiven Reasoning steht die Beziehung zwischen dir und deinem*r Klient*in im Fokus der Aufmerksamkeit. Es geht also um Fragestellungen, mit denen du die Beziehung zu deinen Klient*innen reflektieren kannst. Im Vergleich mit allen bis jetzt genannten Punkten, empfand ich zuerst das interaktive Reasoning als am wenigsten wichtig anzuwenden… Die anderen Reasoning-Formen erschienen mir gehaltvoller und auch nutzbringender für die Therapie. \
Bis ich verstanden hatte, welch großen Einfluss die Beziehung zwischen Therapeut*in und Klient*in haben kann. Deutlich wurde mir das bei der Arbeit mit einer bestimmten Klientin: Bei der Neuaufnahme benannte sie als gewünschten Hauptschwerpunkt für die Therapie ihre Gangunsicherheit und den Fakt, dass nicht auf eine Trittleiter steigen kann um ihre Fenster zu putzen. \
Im Verlauf der Therapie änderten wir jedoch gänzlich unseren Fokus, sodass dann die depressive Verstimmung der Klientin im Mittelpunkt der Intervention stand. Das Problem mit der Trittleiter konnte meine Klientin selbst lösen, indem sie sich eine Haushaltshilfe holte, die jetzt ihre Fenster putzt.
Wie hoffentlich bereits deutlich geworden ist empfinde ich professional Reasoning als essentiell um aus verschiedenen Möglichkeiten für die ergotherapeutische Intervention diejenige auszuwählen, die am besten zu deinen Klient*innen passt. Und professional Reasoning ist unverzichtbar um eine getroffene Entscheidung zu ändern oder zu hinterfragen. Um dir das gut näher zu bringen - und vor allem, um klar zu machen, dass ein Ändern von Entscheidungen durchaus auch auf der Tagesordnung stehen kann, möchte ich hier einige begonnene Schilderungen weitererzählen.
Der Klient, über den ich mir vor der Neuaufnahme schon so viele Fragen gestellt hatte, ausgehend von der Diagnose “ Querschnittsyndrom HWS”, die ich auf der Verordnung des Klienten gelesen hatte, kam zu Fuß in die Therapie, seine größte Problematik, war dass er keine Konservengläßer öffnen konnte. So konnte ich die meisten meiner Fragen und Erinnerungen fallen lassen und mich auf die neuen Gegebenheiten einstellen. Wenn ich im Umkehrschluss mit der Diagnose “Querschnittlähmung HWS” nichts anzufangen gewusst hätte, und mein Klient Rollstuhlfahrer gewesen wäre, hätte mich die Situation sicherliche überfordert, wenn ich mir vorher nicht meine Fragen gestellt hätte.
Bei meinem Klienten mit Parkinson und Alzheimer-Demenz brachte mich mein Ansatz nach dem narrativen Reasoning auch auf Dauer nicht weiter. Da beide Demezarten sich gefühlt gegenseitig verstärkten erfolgte ein Abbau meines Klienten relativ rasch. Schon bald konnte ich ihn nicht mehr mit den Fotoalben begeistern, in denen seine Fotografien aufbewahrt wurden und auch mein Angebot Papierflieger zu falten und gemeinsam herauszufinden, wie sie besonders gut fliegen hat ihn nicht überzeugen können. Als mein Klient in ein Seniorenheim gezogen war begann er vermehrt nach seiner Frau zu fragen und zu Weihnachten er äußerte sich aufgebracht darüber, dass er kein Geschenk für seine Frau habe. \
Also habe ich meine ganzen “Flugzeug-Ideen” wieder eingepackt und wir haben gemeinsam eine Weihnachtskarte für seine Frau gestaltet - natürlich ohne Flugzeuge, sondern ausgestanzten Blumen, weil seine Frau Blumen besonders mochte. Für mich fand also ein Umdenken statt: Im Rückblick betrachtet ist meine Idee im Sinne des narrativen Reasoning die Lebensgeschichte meines Klienten in den Fokus zu rücken keine schlechte - sie hat mir einen guten Ansatzpunkt geliefert und ich habe mit anderen Klient*innen sehr gute Erfahrungen damit gemacht. Ich habe mich aber entschieden dir nicht von den anderen zu berichten, sondern genau von diesem Klient, um zu verdeutlichen, dass es leichter ist eine Therapiemöglichkeit mit einer guten Begründung zu wählen (Biographie-Arbeit) und diese Entscheidung wieder zu überdenken, wenn man bemerkt, dass sie nicht mehr passt.
Professional Reasoning hilft also dabei eine Entscheidung zu fällen und sie gut begründen zu können.
Mir hat es sehr geholfen die Fragen und Aussagen, die mir zu bestimmten Klient*innen, Krankehitsbildern oder Erzählungen in den Kopf kommen, bewusst wahrzunehmen und grob in die verschiedenen Reasoning-Formen einzuordnen. Denn sicherlich machst du dir diese Gedanken auch schon und sie zu ordnen kann dir helfen sie klarer betrachten zu können. Eine weitere Möglichkeit ist getroffene Entscheidungen, aber auch deine eigenen Vorannahmen für die Intervention zu hinterfragen. Denn nur wenn du deine Entscheidungen und Vorannahmen begründen kannst, können diese auch Bestand haben, wenn du mit Angehörigen, Kolleg*innen, Ärzt*innen oder dir selbst in den Austausch gehst.
Bei der Umsetzung von Professional Reasoning hat mir das Buch “Professionelles und klinisches Reasoning in der Ergotherapie” von Maria Feiler sehr gut geholfen.